677 | TVS 06/21

Die Menschheit ist ein seltsames Volk. Bestehend aus Milliarden unendlich vielschichtiger und unterschiedlicher Individuen, die sich, von einem unbewussten Drang gesteuert, bevorzugt bestehenden Herden zuordnen, um dort im Gleichklang ihre Individualität zu feiern. Obwohl der Mensch theoretisch zu komplexem Denken und tiefem Empfinden fähig ist, verzichtet er auch genauso gern auf die umständliche intellektuelle wie emotionale Eigenverantwortung und schließt sich stattdessen lieber dem unsichtbaren Navigationssystem einer anonymen Masse an. Denn wenn man einfach den anderen folgt, kann man im Falle eines Irrtums notfalls immer noch denen die Schuld für den falschen Weg geben. Wem das allerdings zu plump und gleichförmig erscheint, der verschmilzt einfach mit der großen Herde der Herdengegner, um sich gemeinschaftlich in dieser Gruppe generell von sämtlichen Gruppenbildungen zu distanzieren.

Grundsätzlich aber zeigt sich, dass das individuelle Gefühl der Sicherheit über die Richtigkeit einer Meinung oder Aussage mit der Größe der ihr zugehörigen Fraktion exponentiell zu steigern scheint. Je mehr Menschen mitlaufen, desto mehr muss die Grundlage für die Gemeinsamkeit stimmen, denn sonst wären nicht so viele dabei. Die Bekloppten können ja nicht alle Idioten sein! Wobei die gespürte Menge allerdings nicht mit der realen Zahl übereinstimmen muss, wichtig ist hier vor allem die eigene Empfindung der erlebten Stärke. So werden bei Coronaleugner-Demos schnell aus 20.000 Menschen 1,3 Millionen, bei Trump die Minderheit zur Mehrheit oder bei jedem zweiten Social-Media-Pöbler aus drei Daumen hoch der Großteil der deutschen Bevölkerung.
Überhaupt ist das Internet und die damit verbundene Möglichkeit der persönlichen Meinungsäußerung oder anonymen Beleidigung, stets mit der gefühlten Rückendeckung durch eine gedacht riesengroße Unterstüzter-Community, heute der größte spekulative Selbstbewusstseins-Pusher eines jeden Einzelnen. So wie die abstrakte Follower-Gemeinde sämtlicher Produktprostitutions-Facharbeiter aka InfluencerInnen mit ihren zahlreichen virtuellen Herzchen-Smileys nicht nur die hypothetische Vergebung und Rechtfertigung für deren ehrloses Treiben darstellt, sondern natürlich auch die Währung für die Entlohnung der gewerblichen Bückerei – ähnlich wie die Quote im Fernsehen, der Applaus beim Parteitag oder das Jubeln der Anhängerschaft eines beliebigen Diktators. Bei der Erfolgsbewertung zählt stets Quantität, nicht Qualität. Egal ob Helden, Heilige, Vollpfosten oder Arschlöcher – Hauptsache viele!

Die Funktionsweise des Menschen ist halt nur schwierig zu verstehen. Allein als Einzelperson nicht selten mit Klugheit, Empathie und Vernunft gesegnet – als Teil einer Menge jedoch übernimmt meist ein seltsames Gemisch aus Emotion, Denkdumpfheit und Herdentrieb seine Steuerung. In der Masse kann der Mensch Regierungen stürzen, gegen Ungerechtigkeiten demonstrieren und die Welt verändern. Oder aber auch die Realität leugnen, der Dummheit Lautstärke verleihen oder zu einem grausamen Mob mutieren. Denn gemeinsam sind wir schneller stark. Aber auch leichter blöd.

Mummenschanz-Tanz

THE MASKED SINGER läuft wieder erfolgreich auf Pro7, und obwohl die Konkurrenz im letzten Jahr mit diversen Schnellschuss-Kopien meist auf die unmaskierte Fresse fiel, sucht man natürlich trotzdem nach weiteren Ablegern, mit denen man ein wenig Success-Mopsing betreiben könnte. In den USA startete gerade THE MASKED DANCER – ohne Singen, aber mit Masken und Tanzen. Bisher kein Mega-Erfolg, daher ist man noch zögerlich. Wahrscheinlich plant man hier eher MASKIERTER BAUER SUCHT FRAU MIT SACK ÜBER DEM KOPF oder einen Experimental-TATORT mit Strumpfmasken.

Kinder-Tanz

Während man auf Pro7 noch in bunten Kostümen singt, werden auf RTL schon die Tanzlatschen poliert und die ersten Promis für LET’S DANCE in rhythmischer Sportgymnastik trainiert. Das ganze diesmal zusätzlich in einer Nummer kleiner, denn geplant ist derzeit ebenfalls eine Kinder-Variante für die Junior-Tanzwütigen. Erstmal allerdings nur im Online-Dancing-Stream bei TV NOW, bei Erfolg aber bestimmt auch bald diesseits des Tele-Regenbogens im Hauptprogramm. Wann aber kommt endlich das LET’S LOVE & DANCE ISLAND – Paartanz und Poppen unter Palmen mit Jurywertung?

Namens-Tanz

Gerade hat man sich an die Existenz der RTL-zugehörigen Streaming-Plattform TVNow gewöhnt, da muss man sich schon wieder umgewöhnen, denn RTL plant deren Rebranding in RTL+, damit sie etwas RTLiger klingt. Irgendwie auch ulkig, denn RTL hieß früher ja selbst mal RTLplus. So heißt heute allerdings nur noch ihr TV-Retro-Ablegerkanal, der sich nun ebenfalls wieder umbenennen muss, vielleicht in RTLminus, RTLold oder RTLResterampe. Möglicherweise wird in diesem Zuge RTL auch als Premium-Produkt zu RTLplusplus, RTLdoppelplusgut oder RTLimQuadrat und das jetzige RTLplus zu WurzelausRTL. Der mathematischen Kreativität sind keine Grenzen gesetzt!

676 | TVS 05/21

Laut neuester Umfragen ist bei der deutschen Bevölkerung aktuell zum ersten Mal seit Beginn der beliebten Anti-Covid19-Maßnahmen eine leichte Form von sogenannter ‚Corona-Müdigkeit‘ spürbar. Die Bundesregierung zeigte sich von dieser Entwicklung überrascht, denn bisher hat sich das Konzept Pandemie weltweit als großer Erfolg erwiesen, an dessen Umsetzung sich beinahe alle Nationen mit unterschiedlichem Enthusiasmus beteiligt haben, und das mit seiner akuten Bedrohungs-Brisanz sogar ungeliebte Langzeit-Strömungen wie die quengelnden Klimaschutz-Kinder dauerhaft von Platz 1 der medialen Aufmerksamkeit verdrängte. Die Kanzlerin wies deshalb noch einmal eindrücklich auf die zahlreichen erfrischenden Neu-Ausrichtungen des Lebensalltags hin, die uns seit Beginn der Krise gemeinsam gelungen seien: gemütlicher Kuschel-Lockdown, Family-Stubenhocking, More-Time-For-Myself-Time, Klopapier-Bunkering, Auf-Wahre-Werte-Rückbesinning, NonStop-Netflixing, Bad-Hair-Months, Jogginghosen-Revival, Boredom-Sharing, Home-Office-Home-Schooling-and-Home-Everythinging sowie die lang schon überfällige Ausdünnung überflüssiger Sozialkontakte. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ein Teil der BürgerInnen trotz aller positiven Ergebnisse inzwischen beginnt, sich nach altmodischen Prä-Corona-Aktivitäten wie Reisen, Kinobesuche und spontane Gruppen-Besäufnisse zurückzusehnen, manche sogar nach Schule oder Arbeit.

Auch das Fernsehen ist bereits dabei, eine Strategie für die fiktive, theoretisch irgendwann einmal beginnende Zeit ‚nach Corona‘ zu entwickeln. Teilnehmer an Studio-Produktionen werden weiterhin einen Mindestabstand von 2 Metern einhalten, da sich die Augen der Zuschauer inzwischen daran gewöhnt haben und das Publikum sonst anfangen würde zu schielen. Ruckelig-verschwommene Facetime-Schalten und Gast-Gespräche von zuhause via Monitor werden für alle Zeiten verboten, auf technische Fehler wegen schlechtem W-Lan drohen Stockhiebe oder Gefängnisstrafe. Einstmals kaum beachtete, inzwischen aber durch Non-Stop-Medien-Einsatz allseits bekannte Experten wie Lauterbach, Altmaier, Kekulé, Scholz, Söder, Streek und Co werden als Zwangs-Teilnehmer ins erste Dschungelcamp eingewiesen, um den durch ihre Dauerpräsenz verursachten Mangel an Prominenten-Zuwachs auszugleichen und das Publikum nicht durch weniger vertraute Gesichter zu verunsichern. Für unattraktivere Kandidaten gilt auch zukünftig eine Maskenpflicht, um Augen-Infektionen bei den Zuschauern zu vermeiden und das Abschaltrisiko zu mindern. Um die durch Covid gestiegene TV-Einschaltdauer weiter zu gewährleisten, plant die Regierung eine dauerhafte freiwillige Fernseh-Lockdown-Phase von knapp drei Stunden täglich, die Nutzung öffentlich-rechtlicher Programme soll durch moderate Steuervorteile, erhöhten Kai Pflaume-Einsatz und ein Bares-für-Rares-Treuepunkte-Bonusprogramm attraktiver gemacht werden. Sobald ein zuverlässiger Impfstoff gegen schlechte Programme vorliegt, wird eine zügige Durchimpfung der Bevölkerung angestrebt, um eine zu befürchtende Herdendebilität zu verhindern. Probleme werden nicht erwartet.

R-Tier-L

Schluss mit der doofen Menschlichkeit! Jedenfalls bei RTL am Nachmittag, wo man erkannte, dass unmenschlich schlechte Scripted-Schwachsinns-Mensch-Parodie-Programme einfach keine Quote mehr machen, obwohl sie so wunderbar billig sind. Daher setzt man jetzt auf fröhliche Viecher-Formate im Doppelpack: WIR LIEBEN TIERE – DIE HAUSTIER-SHOW mit Tipps und Tricks für alle mit animalischen Untermietern plus TIERRETTER MIT HERZ über eben solche im ärztlichen Pflegedienst. Damit spart man das Gassi gehen!

Dschungel-Nachwuchs

Die schnarchige IBES-DSCHUNGELSHOW ist glücklicherweise vorüber, das hoffentlich normaldoofe Post-Covid-Camp 2022 in der Vorbereitung und das erste Kandidaten-Trio bereits erwählt: Trash-TV-Ikone der Unbekanntheit Filip Pavlovic, Gewinner des Goldenen Tickets, Costa-Sohn und Katzenberg-Kater Lucas Cordalis und der durchgebotoxte Exzentrik-Darsteller Harald Glöööckler, um nach eigener Aussage endlich mal wieder etwas PR zu bekommen. Plus ‚Bewusstseinserweiterung‘ natürlich, was ja für alle stets der wichtigste Beweggrund ist, da man heute kaum noch einen Platz im Kloster kriegt. Prima, klingt nach dem gewohnten Mix aus Egomanie, Unwichtigkeit und Wahnsinn!

Samensuche

Wunderschöne Traumpartner für pseudo-romantisches Gepimper im Auftrag der wahren und ewigen Liebe werden schon ewig in unzähligen Knattercasting-TV-Shows gesucht. Bei TLC geht man jetzt aber praktischer an die Sache, denn im US-Format LABOR OF LOVE alias TORSCHLUSSPANIK sucht eine 40-jährige Karrierefrau nach dem perfekten Samenspender, mit dem sie sich zur Familiengründung niederlassen könnte, falls er nicht zu stark schmutzt oder müffelt. Ansonsten werden die Mutterschaft und das ganze Gedöns danach eben allein durchgezogen, aber vorher hat man wenigstens noch ne eigene Fernseh-Show. So funktioniert modernes Glück im Zeitalter des medialen Pragmatismus!

675 | TVS 04/21

Auch wenn uns Wissenschaft und Regierung immer noch täglich mit neuen Krisensitzungen, Infektionszahl-Rekorden und Lockdown-Verlängerungs-Maßnahmen zu überraschen wissen, so wird bei allem Gerede um Risiko-Patienten, Reisebeschränkungen und Schul-Schließungen, ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft bewusst offensiv ignoriert: die Karnevalisten! Nur wenige Worte aus dem Kanzleramt richteten sich bislang an die Gruppe der saisonal systemrelevanten Spaßvögel, die uns und sich selbst alljährlich semi-professionell mit launigen Pappmaché-Winkewagen-Paraden, holprig gereimten Sozialkritik-Kalauern und alkoholisiert gelallten Stimmungsgesängen zu erfreuen versuchen. Viel Aufhebens wurde allerdings im Dezember unnötigerweise um das altmodische und eher unlustige Old-School-Weihnachtsfest gemacht, das im Grunde ja keiner mehr braucht, da man den Geschenkeversand inzwischen auch gut online regeln kann.

Der Rosenmontag hingegen ist für viele Menschen gerade in Deutschland der wichtigste Feiertag des Jahres, an dem mit feierlichen Besäufnissen und ritueller Querfeldein-Besamung der bedeutendsten Büttenrede Jesu und der Gründung der christlichen Gesangsgruppe De Höhner gedacht werden soll. Wie aber kann dieses kulturell prägende Fest in Zeiten von Corona adäquat zelebriert werden? Gilt ab Weiberfastnacht wie angedroht eine FFP2-Pappnasen-Pflicht? Wo sind die Strategien der Bundesregierung für Polonäsen mit Mindestabstand, Online-Prunksitzungen und Suffbumsen im Home Office? Wie funktioniert die erforderliche Spirituosen-Druckbetankung mit Mund-Nasenschutz ohne sich komplett einzusauen? Wurde genug hochprozentiger Bölkstoff für eine garantiert ausreichende Schluck-Impfung der volljährigen Bevölkerung geordert? Oder haben wir an den Theken gerade in kritischen Phasen drohender Ausnüchterung Lieferungs-Engpässe und Nachgieß-Verzögerungen zu befürchten?

Jeckenvorsitz Armin Laschet mahnte bereits, dass wir 2021 mit ‚der härtesten Fassenacht der Nachkriegszeit‘ zu rechnen hätten, und Angela Merkel warnte eindringlich vor ‚ansteckender guter Laune‘. Ausgelassene Großgruppen-Gelage mit exzessivem Körperkontakt und Speichelfluss sind vorübergehend untersagt und können nur mit Sondergenehmigung unter kontrollierten Bedingungen mit Karl Lauterbach durchgeführt werden.

Der deutsche Elferrat reagierte in der Krisenlage mit gewohnt umsichtiger Besonnenheit. So wurden zahlreiche Klassiker der kirchlichen Karnevalsgesänge rechtzeitig der aktuellen Situation angepasst, wie zB Wir impfen durch bis morgen früh/ Polonäse Quarantäne/ Alles hat ein Ende, nur der Lockdown nicht/ Ein Test, der deinen Namen trägt/ Viva Coronia und Da steht Jens Spahn auf dem Flur. Außerdem sollen als Kompensation für die ausgefallenen Kammelle-Würfe kostenfrei über die Apotheken je drei Karamell-Bollos pro Haushalt angeboten werden, mit denen sich die NärrInnen und Narrhalesen am Rosenmontag vom Balkon aus gegenseitig bewerfen können. Olaf Scholz kündigte außerdem an, im Zuge der Februarhilfe zusätzlich 1,2 Milliarden Papiergeld zu Konfetti zu verarbeiten. Alaaf und Narrhalla-Marsch! Et hätt noch immer jot jejange!

Ersatzüberflüssigkeit

Ob man es mag oder nicht – der mediale Januar ist seit mehr als 15 Jahren im festen Würgegriff vom RTL-Dschungelcamp! Doch durch Corona gab es statt Hot Shit diesmal nur die lieblos-lauwarm aufgewärmte Dosenwurst-Variante mit Ex-Teilnehmer-Talks, billigen Ekelspiel-Placebos und je drei Unbekannten im Mini-Zimmer-Loser-Lockdown. Die traurige Demonstration schläfriger Kreativschmelze, die einem vorkam wie einem trägen Zombie dabei zuzuschauen, wie er in Zeitlupe sein eigenes Grab schaufelt, immer tiefer ohne jemals fertig zu werden, weil niemand ihm den erlösenden Gnadenschuss gibt.

Stiftung Knattertest

Erotik-Shops und Versandhandel wurden einst nur heimlich besucht und das Wissen um ihre Existenz von der anständigen Öffentlichkeit verschämt verleugnet. Inzwischen gehören sie in jede Schublade und auch im Fernsehen zum gewohnten Werbe-Alltag. So war es auch nur eine Frage der Zeit, bis die erste TV-Sextoys-Tester-Doku-Soap dazu entsteht. Den Anfang macht VOX mit LUST ODER FRUST – DIE SEXBOX, wo diverse Paare sich aufmachen, ihr langweiliges Liebesleben mit flottem Knatter-Spielzeug und pfiffigen Pimper-Technik-Tipps von ausgewiesenen GV-Experten aufzupimpen und uns nach dem Vollzug davon zu berichten. Immer noch besser als selber zu bumsen!

Männersuche

Was tut man als inhaltsarmer Streamer, wenn man dringend auch irgendsoeine Promi-Paarungs-Popp-Mich-Dokusoap-Sülze braucht, die BachelorEtten aber vergeben und Dutzende anderer Fummelformate bereits auf Sendung sind? Man mietet sich einfach eine luxuriöse Sexualverkehrs-Anbahnungsbutze mit Komplett-Kamera-Verkabelung, nennt den voyeuristischen Ruckelschuppen HOUSE OF LOVE und lässt wechselnde Trash-TV-Tanten um jeweils einen neuen Lover balzen. Nachdem sich dort schon Cora Schumacher zwischen zehn Möchtegern-Lovern zum Affen-Weibchen machte, ist nun die stets angeschickerte Schluckspechtin Claudia Obert auf der Begattungs-Pirsch! Zum Glück nur auf Joyn, da sieht’s nicht jeder.